Dienstag, 9. Dezember 2008

Der Neid des Hippokrates

Als es an der Tür klopfte, wusste Dr. Renz bereits, dass es die Herren in Grün-Weiß waren, die draußen standen. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden Kommissare ihm einen unerwünschten Besuch abstatteten, so ließ sich der Doktor diesmal ein wenig Zeit, bevor er sich in Richtung Tür aufmachte. In Ruhe las er den Artikel in seiner Fachzeitschrift noch zu Ende, das wiederholte Klopfen und die lauten Kundmachungen, dass es sich hierbei um Amtspersonen handele, ignorierend. Nach einer Weile erhob er sich und schlurfte langsam los. Er öffnete die Tür und obwohl er wusste, was ihn erwartete, tat Dr. Renz sehr überrascht: „Oh, welch Überraschung, kommen sie doch herein“. „Keine falsche Freundlichkeit, Sie wissen genau, weshalb wir hier sind. Es gibt klare Anschuldigungen gegen Sie!“ erwiderte der Kommissar, wobei er sich provokant an seine Dienstmütze griff. Der Doktor nickte und bat mit vertrauensseliger Miene und einladender Geste die beiden Herren zum Eintreten. Er führte die Kommissare in sein Besprechungszimmer, das aufgrund seines Urlaubs derzeit leer stand.

Neben den üblichen Stühlen in Reih und Glied und den mehr als veralteten Illustrierten im Zeitungsständer fiel nur eine übermäßig große Kopie des Eid des Hippokrates neben der Tür zum Behandlungszimmer auf. Sie war in einem anscheinend sehr teuren Rahmen gehalten und sprach deutlicher als gewöhnlich dem Arzt eine fachliche, wie auch eine moralische Kompetenz zu. Kein Wunder, warum so viele Leute diesem Doktor vertrauten. Denn in der Tat war Doktor Renz in der gesamten Stadt als Weisester und Vertrauensseligster seiner Zunft bekannt. Er kümmerte sich fürsorglicher um seine Patienten als man es von anderen Ärzten in der Stadt behaupten konnte. Dies sprach sich natürlich unter den an Zuneigung bedürftigen Rentnern und anderen Kranken herum, und je mehr Patienten aufgrund dieser Behandlung zu ihm fanden, umso länger wurde auch der Arbeitstag von Dr. Renz, denn er bestand nichtsdestotrotz darauf, jedem Einzelnen eine persönliche und intensive Behandlung zu ermöglichen. So wurde aus einem 10-Stunden Tag schnell ein 14- und dann ein 18-Stunden-Tag. Und trotz dieser zunehmenden Belastung, sah Renz sich nicht dazu gezwungen kürzer zu treten, und dass obwohl er mittlerweile 55 Lenze zählte. Er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren.

So war es nicht schwer vorherzusagen, dass dem Doktor eines Tages ein schweres Herzleiden befiel. Von einem Tag auf den anderen fiel sein Blutdruck rapide ab, ihm wurde schwindlig und seine Sehleistung war beträchtlich eingeschränkt. Sowas durfte natürlich nicht geschehen! Er, der Philanthrop, der Doktor und Seelsorger, die letzte Hoffnung so vieler Menschen, kann doch selber nicht erkranken! Er musste sich etwas einfallen lassen, wie er diesem Leiden entgegenwirken konnte, ohne dass er befürchten musste, seine Praxis aufzugeben.

Im Besprechungszimmer herrschte eine kalte, dunkle Stille, das Kratzen der Stühle beim Zurechtrücken schnitt wie ein Messer durch die angespannte Luft. Die beiden Kommissare saßen Dr. Renz genau gegenüber, er setzte ein dezentes Lächeln auf, welches die Männer in Grün-Weiß jedoch mit ernsten Mienen ganz und gar nicht erwiderten. „Was wissen sie über den Herrn Joachim Glarner? Wir fanden heraus, dass er regelmäßig bei ihnen in der Praxis war!“ schoss der linke der Beiden ohne Vorwarnung auf den Doktor los. Dr. Renz setzte eine nachdenkliche Mimik auf, stützte seinen rechten Ellenbogen aufs Knie und legte Daumen und Zeigefinder auf die Stirn. „Ja“, sagte er nach einigen Sekunden, „er war jeden Monat zur Durchsuchung hier – ein kerngesunder Mann!“. „Ein kerngesunder Mann, sagen Sie? Wie kommt es dann, dass er Suizid begeht? In seinem Abschiedsbrief beschrieb er, dass er sich das Herz rauschneiden wolle! Was glauben Sie, weshalb er sowas tun sollte?“ Dr. Renz Gesicht erstarrte: „Das Herz rausschneiden?“

Wie an jedem 15. Im Monat saß Herr Joachim Glaser im Wartezimmer der Praxis von Dr. Renz. Er blätterte in einer 2 Jahre alten „Super Illu“ und ahnte nichts von den Vorbereitungen, die der Doktor im Nebenzimmer traf. Er erwartete, wie jeden Monat, eine routinierte Untersuchung und den üblichen „Wahnsinn! Sie sind kerngesund“ – Glückwunsch. Doch schon als er das Behandlungszimmer betrat, merkte er, dass der Gesichtsausdruck des Arztes keine guten Nachrichten versprach. „Guten Tag Herr Glarner“, begann Dr. Renz, „mir ist beim Studieren ihrer Akte aufgefallen, dass ihre letzte endogastrische Spiegelung schon viele Jahre zurück liegt – dies müssen wir heute nachholen!“. Schon beim Hören der Wörter „endogastrische Spiegelung“ war Herrn Glaser ein wenig mulmig zumute, doch auch dies, sagte er zu sich selbst, werde er zwecks seiner Gesundheit auf sich nehmen.“Ach und nebenbei, sind Sie eigentlich Organspender?“ Ja, natürlich, nach meinem Tod sollen doch die, die es nötig haben von meinen Organen profitieren!“

Die Behandlung dauerte schließlich auch nicht lange, nach gerade mal 10 Minuten durfte sich Glarner bereits wieder ins Wartezimmer setzen, wo er auf die Ergebnisse warten sollte.

„Tut mir leid, Herr Glarner“, sagte Dr. Renz, nachdem er die Tür sanft hinter sich schloss. „Ich fürchte, wir haben keine Zeit zu verlieren. An ihrer Magenschleimhaut haben sich Säure-resistente, bösartige Bakterien angesetzt. Ich gebe ihnen jetzt eine Spritze, um sie erstmal temporär dagegen zu schützen.“

„Ja, bei der Obduktion fand man heraus, dass die Venen und Arterien mit geraden Schnitten durchtrennt wurden. Ich frage sie, wie kann ein Selbstmörder so eine ruhige Hand haben?“

Der Doktor konnte sich ein lautes Schlucken gerade so unterdrücken, jedoch machte sein Herz einen kleinen Sprung.

„Wer, wenn nicht ein ausgebildeter Arzt und Chirurg hat die Konzentration, Organe so sorgfältig aus einem Menschen zu entfernen?“

Dr. Renz zuckte erneut kurz zusammen. Sein Herz begann in immer unregelmäßiger werdenden Abständen zu schlagen

„Ich frage Sie noch einmal, Herr Renz: Wann haben sie Joachim Glarner zum letzten mal gesehn?“

Glarner brauchte nicht lange, bevor er bewusstlos zu Boden fiel, die Spritze mit dem flüssigen Chloroform hat ein so starke Wirkung, dass es keine halbe Minute dauerte. „Wissen sie, Herr Glarner, natürlich sind Sie Organspender, damit andere nach ihrem Ableben profitieren. Doch manchmal ist es unvermeidbar, auch vor dem Ableben andere von den eigenen Organen profitieren zu lassen. Mit ihrem Herz kann ich viel mehr Menschen retten als ihres. Dies ist die Philosophie des geringeren Übels. Einer stirbt und hunderte überleben. Sie haben sich für etwas Großes geopfert.“

„Wann haben sie Herrn Glarner zum letzten Mal gesehen, Herr Renz?“

Sein Herzschlag war nun jenseits der Grenze zum ertragbaren, er spürte es an seine Rippen schlagen. Immer heftiger, immer schneller.

„Wenn Sie schweigen, bringt Sie das nur in noch größere Schwierigkeiten!“

Ohne es selbst zu bemerken, wurde das Gesicht des Arztes von dem Schmerz seines Herzschlages gezeichnet. Er biss sich auf die Unterlippe, der Haaransatz und die Stirn waren bereits angefeuchtet. Doch das Herz pochte nun immer schneller, es schien explodieren zu wollen, den Körper so schnell und so schmerzvoll wie möglich verlassen wollen.

„ Herr Renz, haben Sie Herrn Joachim Glarner umgebracht? Haben Sie ihm sein Herz entfernt?“

Und nun war es soweit, die Schmerzen waren unerträglich geworden. Der Arzt verlor den Halt, und fiel rücklings auf den Läufer neben seinem Schreibtisch. Obwohl er die Augen so weit aufriss, dass man die Schmerzen allein vom Hinsehen nicht mal ansatzweise deuten konnte, gelang es ihm nicht, ein Ton hervorzubringen. Stumm wälzte er sich auf dem Boden herum und mit beiden Händen griff er an seine Brust, sodass es aussah, als wolle er mit aller Kraft sein Herz in den gewohnten Rhythmus drängen.

„Herr Renz! Herr Renz! Was ist mit ihnen? Können Sie mich hören? Schnell, ruf einen Notarzt!“

Doch es war zu spät.

Der Arzt blieb atemlos liegen. Seine Hände glitten langsam von seiner Brust auf den Boden. Der Herzschlag, der vorhin noch den ganzen Körper zum Beben brachte, war nun nicht mehr zu hören.

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